Open-Media-Klausur: Portfolio mit eigenem Analysefokus zu Kurzgeschichten von Judith Hermann

von Lars Zumbansen

In dem vorliegenden Beitrag wird die schriftliche Leistungsüberprüfung eines Deutsch-Grundkurses der Jahrgangsstufe 12 vorgestellt, die perspektivisch ortsungebunden konzipiert und somit flexibel innerhalb der pandemischen Situation durchgeführt werden konnte. Das Beispiel soll zeigen, wie eine Klausur als traditionelle Form summativer Leistungsbewertung am Ende einer Lerneinheit trotzdem für die Schüler:innen sinnhaft eingebunden sein kann in einen individualisierten Lernprozess.

Herausforderung “Kontrollverlust” 

Auch wenn spätestens seit dem Schuljahr 2020/21 in den einzelnen Bundesländern die Prüfungsordnungen soweit modifiziert wurden, dass die Gleichwertigkeit des Unterrichts und der Leistungen in Präsenz und Distanz eine rechtliche Verankerung fand, offenbarten sich in der praktischen Umsetzung jedoch einige Fragen. Denn gerade Prüfungssituationen stellen in der Regel hochgradig regulierte Settings dar, die durch eine strikte Festsetzung der Zeit, der räumlichen Überwachung und der nur eingeschränkten Freigabe von Hilfsmitteln eine herausfordernde Drucksituation für Schüler:innen erzeugen. Formen der Leistungserbringung zuhause stehen dagegen zuweilen in der Kritik, weil ungerechte Bewertungen befürchtet werden, die zum einen durch die unterschiedlichen Voraussetzungen und mögliche Hilfestellungen seitens der Eltern entstehen könnten, zum anderen durch Täuschungsversuche mithilfe des Internets. 

zeitgemäße Formen “eigenständiger” Leistungserbringung

Statt nun traditionelle Verfahren der Leistungskontrolle, etwa durch permanente Kameraüberwachung, ins Digitale auszuweiten und damit den Schüler:innen kollektives Misstrauen zu signalisieren, sollte es von darum gehen zeitgemäße Formen der Leistungsbewertung zu entwickeln, die ohne Regulative die Eigenständigkeit der Schüler:innenleistungen anderweitig garantieren. Dabei haben sich folgende Grundsätze bewährt:

  • längerfristige Dokumentation eines Lernprozesses, ggf. durch begleitendes Peer-Feedback von Mitschüler:innen oder Zwischenreflexionen mit Lehrer:innen
  • stärkere Individualisierung und Selbstbestimmung der Schüler:innen bei der Themenwahl (Arbeit mit kompetenzorientierten Erwartungshorizonten im Bewertungsprozess)
  • geringer Fokus auf Reproduktion, stattdessen ­Einbettung von Fachwissen in größere Lernzusammenhänge, erhöhte Bedeutung von Transferaufgaben
  • transparente Meta-Reflexion mit den Schüler:innen über die Selbstverantwortung im Lernprozess und Selbstverpflichtung, dokumentiert in Form einer Eigenständigkeitserklärung

Die hier aufgeführten Grundsätze, die Schüler:innen wesentlich als Gestalter:innen ihres eigenen Lernweges begreifen, haben den auch Eingang gefunden in die Konzeption der hier dargestellten Reihensequenz, an deren Ende eine Open-Media-Klausur stand.

Das Erstellen eines Analyseportfolios

Die gesamt Einheit inklusive Open-Media-Klausur war dem obligatorischen inhaltlichen Schwerpunkt “Strukturell unterschiedliche Erzähltexte aus unterschiedlichen historischen Kontexten” in NRW zugeordnet, der u.a. eine Fokussierung auf die Kurzgeschichte “Sommerhaus, später” von Judith Hermann vorsah.

Die Klausur ist dabei eingebettet in ein von den Schüler:innen zu erstellendes Analyseportfolio, in welchem es darum ging mit Hilfe selbstgewählter “textübergreifender Untersuchungsverfahren” die Kurzgeschichte “Sommerhaus, später” aspektorientiert zu erschließen. Mit Hilfe eines Materialpadlets (s.Link) wurden den Schüler:innen mögliche Themenaspekte und entsprechende Sekundärquellen ausgebreitet, es waren jedoch auch eigene Schwerpunktsetzungen möglich. Diese reichten von kultursoziologischen Fragestellungen zur Szenenkultur und der “Erlebnisgesellschaft” der 1990er Jahre bis hin zu kommunikations- oder literaturtheoretischen Fokussierungen. Neben der Produktion eines “Text-Snap-Videos” zu der gewählten Sekundärquelle galt es eine schriftliche Analyse mit eigenem Untersuchungsfokus zu der Kurzgeschichte Judith Hermanns anzufertigen. Der gesamte Prozess war im Unterricht selbst durch Beratungsgespräche und Feedback zu den Schreibproben begleitet. Die Ergebnisse dienten als Vergleichsgrundlage für die Auseinandersetzung mit dem Fremdtext in der Klausur. In der Klausur selbst konnten die Schüler:innen aus dem Textkorpus der aus dem selben Erzählband stammenden Kurzgeschichte “Bali-Frau” eigene Textstellen für ihre Analyse auswählen. Dabei erfolgte ein Transfer auf eigene Analyseergebnisse und eine Einbettung in das Portfolio, was insgesamt trotz gleicher Textfolie hochgradig individuelle Lernprodukte hervorbrachte.

Herausforderung Textauswahl

Um individualisierte Zugänge zu einem bzw. mehreren literarischen Texten für die Schüler:innen zu ermöglichen, galt es bei der Wahl der Primär- und Sekundärquellen bestimmte Kriterien zu berücksichtigen. Sobald mit den Schüler:innen der thematische Fokus ihres Analyseportfolios eingegrenzt war, wurden offen bestimmte Gütekriterien für die flankierenden Sekundärquellen besprochen. So war es einerseits wichtig, dass alle Untersuchungsschwerpunkte eine Transferierbarkeit für auch andere Textkorpora aufweisen sollten. So wollte sich eine Schülerin etwa mit einem in der Kurzgeschichte thematisierten Referenztext, “American Psycho” von Bret Easton Ellis befassen. Um die Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex jedoch auch für die Analyse anderer Erzähltexte fruchtbar zu machen, einigten wir uns im Beratungsgespräch darauf, eher das dahinterliegende Rollenkonzept des “Yuppie” aus soziologischer Perspektive in den Blick zu nehmen. Andererseits galt es bei der Wahl der Quellentexte auch darauf zu achten, dass dort ein zusätzliches fachsprachliches Beschreibungsinventar entfaltet wurde, das eine spezifische Modellierung des Figurenverhaltens oder der Beziehungsmuster erlaubt. Beispiele hierfür waren etwa die Milieutypologien und ästhetischen Schemata des Soziologen Gerhard Schulze, die sich besonders dafür qualifizieren, auch die Lebensstile fiktionaler Figuren aus Texten der Postmoderne zu ergründen.

Bei der Wahl alternativer Primärtexte eignete sich überdies gerade der Erzählband “Sommerhaus, später” von Judith Hermann als Materialfundus, da hier neben der titelgebenden Geschichte zahlreiche Figurenschicksale in Einzelgeschichten versammelt wurden, die in Abstufungen und Facettierungen alle Fragen postadoleszenter Sinnkrisen der Spätmoderne verhandeln. Durch die je unterschiedlichen Frageschwerpunkte der Schüler:innen war es jedoch schwierig für die Klausur selbst einen konkreten Textauszug zu wählen, der sich als gleichwertig ertragreich für alle Analysezugriffe erwies. Aus diesem Grund wurden den Schüler:innen mehrere Auszüge mit knappen Kontextualisierungen dargeboten, aus denen sie selbst eine passende für ihre Fragestellung passende Textstelle, wahlweise auch zwei konträre, selegieren konnten. Zur Bewerkstelligung dieses Unterfangens erhielten sie, wie im Abitur, eine zusätzliche 30-minütige Auswahlzeit.

Durchführung und Evaluation

Bei der Durchführung hatten die Schüler:innen die Möglichkeit zuhause zu schreiben, konnten jedoch zwecks besserer Arbeitsbedingungen (WLAN, konzentrierte Arbeitsatmosphäre) einen “study room” (hier Selbstlernzentrum) in der Schule buchen. Der Schreibprozess selbst war flankiert durch eine vor- und nachgeschaltete Videokonferenz, in der Nachfragen zur Aufgabenstellung oder abschließend das erfolgreiche Hochladen der abfotografierten Texte im Lernmanagementsystem geklärt werden konnten.

Trotz der erhöhten Anforderungen durch das vernetzende Arbeiten und die eigenständige Auswahl des passenden Textauszuges wurde die Leistungssituation selbst als weniger stressbesetzt wahrgenommen. Insbesondere durch die Möglichkeit, in vertrauter, selbst hergerichteter Atmosphäre schreiben zu können und bei der Klausur potentiell auf die im Unterricht erarbeiteten Lernprodukte und Materialien zurückgreifen zu können, wurde eine konzentrierte Fokussierung auf den und auch reflexive Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsgegenstand befördert. Die Klausur war somit, trotz ihres exponierten Status, organisch eingebunden in den Lernprozess, der durch die Leistungsüberprüfung nicht unterbrochen, sondern vertieft werden konnte.

weiterführende Links: 

Aufgabenpadlet: https://gymhsw.padlet.org/LZumbansen/re6abya0t6yfxcql

Klausur: https://drive.google.com/file/d/1HE8L33HKhmPuWADFESumcyCrdgwNAi3H/view

Erwartungshorizont: https://drive.google.com/file/d/1-9M_MX17L1IH7n2_tIsMB8eu-IYgxDBu/view

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