Das zweite der drei Inhaltsfelder der Einführungsphase Geschichte in NRW beschäftigt sich in Form eines Längsschnitts mit der Begegnung von Islam und Christentum. Dabei suggerieren sowohl der Problemaufriss (gern werden hier Bilder des Terroranschlags vom 11. September angeführt) als auch die Themenauswahl vieler Schulbücher, dass der Islam mehrheitlich Feind der christlichen Europäer gewesen sei. Dadurch wird ein dichotomes Denken zwischen „dem Islam“ einerseits und „dem christlich-abendländischen Europa“ andererseits befördert. Zielsetzung sollte aber nach meinem Verständnis ein Geschichtsbild sein, in dem der Islam auch einen wichtigen Teil der Geschichte Europas darstellt, jeder Mensch mehr als einer Kultur angehört und innerhalb derselben Religion verschiedene Wertmuster existierten und existieren.
Zwar bemühen sich aktuelle Schulbücher auch darum, neben kriegerischen Begegnungen auch historische Phasen anzuführen, in denen eine Ko-Existenz möglich war, allerdings erscheinen diese Phasen durch die Verwendung eines anachronistischen Toleranzverständnisses wiederum problematisch, weil man mit dem Toleranzbegriff einen Maßstab an sie anlegt, der zur besagten Zeit nicht galt. Was also läge näher, als selbst ans Werk zu gehen?
So haben wir die Unterrichtsreihe durch einen Problemaufwurf mit Gegenwartsbezug gestartet, sind übergegangen zu einer vergleichenden Betrachtung der Anfänge der christlichen und muslimischen „mittelalterlichen“ Kultur im Hinblick auf die Dimensionen Religion/Kultur, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, haben reflektiert, ob die Kreuzzüge des Mittelalters und die Terroranschläge des IS miteinander vergleichbar seien und haben anschließend verschiedene Schulbücher der EF kritisch gesichtet, um auf dieser Basis selbst (re)konstruierend ans Werk zu gehen. Dabei bestand der Arbeitsauftrag darin, ein Unterkapitel für ein multimodales Schulbuch zu erstellen, das folgenden Kritierien genügen sollte:
- Aussagekräftige Überschrift, die eine geeignete Problemfrage in sich birgt
- je zwei mehrperspektivische Text- und Bildquellen, die als relevant betrachtet werden
- mindestens zwei (kontroverse) Historiker:innenurteile – eingekürzt und annotiert
- „fertige“ multimodale Darstellungen (Erklärvideos und Podcasts)
- eingebettet durch einen eigenen Darstellungstext, der das eigene Sachurteil spiegelt
- Aufgabenstellungen (an geeigneten Stellen mit Operatoren) aus allen drei Anforderungsbereichen
- Einer begleitenden Reflexion, in der die Entscheidungen für den verwendeten Materialkorpus begründet werden sollten.
Als Format legten wir Pages oder den E-Book-Creator fest, beides vor dem Hintergrund, dass die Lerngruppe seit einigen Monaten mit iPads in 1:1-Ausstattung arbeitet und die Produkte auf Wunsch der Lerngruppe in Kleingruppen kollaborativ entstehen sollten. Bevor die Arbeit losging, haben wir Kriterien gesammelt, die das Schulbuchkapitel erfüllen und die auch dem Feedback und vor allem auch der späteren Bewertung zugrunde liegen sollten.
Mit Blick auf die Schieberegler bewegt sich dieses Format in fast allen Bereichen außer bei der Zeit und der Offenheit der Aufgabenstellung weit rechts, und ähnlich vielfältig waren die entstandenen Produkte: Die Schüler:innen reflektierten die Multimodalität („man wird komplett unabhängig vom Denken in Seiten“) und rekurrierten auf verfügbare Narrative im Netz (Dokumentationen von Tourismus-Anbietern, die die historischen Wurzeln von al-Andalus unkritisch verbrämten) und de-konstruierten sie durch Quellen und Darstellungen. Eigene Schwerpunkte (zum Beispiel beim Massaker von Granada oder der aktuellen Situation in der spanischen Exklave Ceuta) ermöglichten trotz einer Rahmung durch die Aufgabenstellung sehr faszinierende eigene Produkte – mit Audios als „Stellungnahme der Verfasser:innen“, QR-Codes zu Padlets mit weiterführendem Material und Aufgaben wie der, die erarbeitete Perspektive im Religionsunterricht mit einer theologischen abzugleichen. Grundsätzlich erst einmal nicht intendiert, aber sehr hilfreich war die produktive Auseinandersetzung mit Anforderungsbereichen und Operatoren, die vor der Verwendung auch „begriffen“ werden wollten.
Die Arbeit wurde begleitet durch Beratungsgespräche und vor allem auch Peer Feedback; die Dateien waren im Collaboration Space in Teams abgelegt, sodass unkompliziert Videokonferenzen in Kleingruppen „über“ die Arbeiten gestartet werden konnten.
Mit dieser Arbeit ist mir noch einmal klarer geworden, dass der Konstruktionscharakter von Geschichte und Geschichtsbüchern durch die Erstellung eigener multimodaler Narrative sehr deutlich wird – einerseits „entzaubert“ dieses Tun das in der Regel eher unhinterfragte Schulbuch mit Blick auf inhaltliche Schwerpunktsetzung und fehlende Multimodalität, andererseits wird deutlich, dass auch Schulbuchmacher:innen durchaus viel Arbeit in Auswahl, Aufgabenstellung und Aufbereitung von „Vergangenheiten“ stecken müssen.
Schreibe einen Kommentar